Kaufhäuser sind Gegenstand der Transformationen im stationären Einzelhandel. Mit zentralen Lagen in Städten sind sie auch Potentialflächen für hybride Funktionsprogramme. 1/2

EINLEITUNG


Kaufhaus Utopia ist eine Studie über die Nachnutzungspotentiale leerstehender Kaufhäuser. Kaufhäuser sind einer-seits eine Typologie des Handels, dessen Nutzungstransformation perspektivisch anzunehmen ist und bilden damit einen - wenn auch nur kleinen - Teil räumlicher Auswirkungen großer Transformationsprozesse. [1] Andererseits bieten leerstehende Kaufhäuser in Summe enorme innerstädtische Flächenreserven, welche für gesellschaftliche Transformationen als Verhandlungsräume zugänglich gemacht werden können. Mittels eines prototypischen Testentwurfs wird, auf Grundlage eines bestehenden Kaufhauses in Hamburg, ein solcher Verhandlungsraum entwickelt.

Das gegenwärtig vorherrschende kapitalistische Gesellschaftsmodell, basierend auf der stetigen Steigerung des Ressourcenverbrauchs, ist nicht zukunftsfähig und bedroht bereits gegenwärtig das Wohlergehen des Planeten und seiner Lebensformen. Spätestens seit dem Übergang vom Holozän zum Anthropozän wird die seit Jahrzehnten kumulativ nachweisbare Kursabweichung auf der Erde deutlich. Fast ausnahmslos alle wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben, dass dringender Handlungsbedarf besteht, die endlichen Ressourcen zirkulär einzusetzen. Dies bedeutet, ein neues System zu gestalten, welches das Verbrauchen durch das Erhalten ersetzt.
Dazu ist es wichtig „Handlungsoptionen, also Macht und Verantwortung wieder in einer Hand zu vereinen. Wer in einem Produktionsprozess Entscheidungen fällt, muss dafür auch langfristig die Folgen tragen und darf die Verantwortung dafür nicht einfach an den überforderten Verbraucher weiterveräußern“ [2], schreiben Sabine Oberhuber und Thomas Rau in Material Matters.
Verantwortung für eingesetzte Rohstoffe zu übernehmen, soll dazu führen, dass der zirkuläre Einsatz der Ressourcen bereits zu Beginn eines Produktionsprozesses mitgedacht wird. Das vorherrschende Wirtschaftssystem mit seiner linearen Abfolge von Produktion, Nutzung, Verbrauch und Entsorgung beabsichtigt den langfristigen Einsatz von Rohstoffen nicht. Vielmehr werden zunehmend Produkte durch geplante Obsoleszenz [3] direkt zum Verbrauchen hergestellt.

Ein zirkuläres Gesellschaftsmodell bedeutet, dass neue Formen der Produktion auch auf lokaler Ebene erprobt werden müssen. Dazu wird es notwendig sein, zunächst den Metabolismus eines Ortes zu dokumentieren, um eine Datenbank über Materialen, Ressourcen, et cetera zu erhalten. [4] [5] Daraus können Handlungsempfehlungen entwickelt werden, Akteure zusammengebracht und Szenarien erarbeitet werden, wie sich die wirtschaftliche Struktur weiterentwickeln kann.
Dazu notwendige Kurskorrekturen sind in technologisierten und demokratischen Gesellschaften meist mit komplexen Aushandlungsprozessen verbunden und oft nur schwer möglich. [6] Alternativ können Experimente in der Planung kurzfristig Lösungen erproben und dabei verschiedene Lebenswelten miteinbeziehen. [7]

Um eine solche kollaborative Peer-Produktion [8] bereits in der gegenwärtigen Lebenswelt zu erproben, werden hybride Flächenangebote benötigt. Innerhalb der Studie wird anhand eines Testentwurfs überprüft, welche situativen und strukturellen Merkmale eine solche Typologie des gesellschaftlichen Wandels kennzeichnen. Prototypisch dienen dem Entwurf die vorhandenen und zunehmend leerstehenden Kaufhäuser der GALERIA-Karstadt-Kaufhof GmbH als Flächenressource. Diese befinden sich in strategischen urbanen Lagen und sind selbst Teil eines Transformationsprozesses im stationären Einzelhandel. Der Entwurf baut auf drei Thesen auf.


Kaufhäuser sind Gegenstand der Transformationen im stationären Einzelhandel. Mit zentralen Lagen in Städten sind sie auch Potentialflächen für hybride Funktionsprogramme. 2/2

SOZIALE STRUKTUREN MIT RÄUMLICHEN STRUKTUREN VERBINDEN [9]

Zur Vermittlung gesellschaftlichen Wandels bedarf es an Experimenträumen mit niedrigschwelligem Zugang und unter Einbindung lokaler Akteur*innen. Damit spezifische Anforderungen in die Organisation eines solchen Experimentraums integriert werden können, sollten die Flächenaufteilung und Grundrisse flexibel sein. Die Bestandsstrukturen der Kaufhausflächen können gewissermaßen als Blaupause in einen zweiten Nutzungszyklus überführt werden. Die freien Geschossflächen mit nicht selten achtzig Metern Gebäudetiefe bieten eine begehrte urbane Flächenressource. Aufgrund von Veränderungen im stationären Einzelhandel sind Umnutzungen der Kaufhausflächen abseits einer Handelsnutzung denkbare Szenarien.

„Rund 80% der Menschen werden 2050 in Städten leben. Dort laufen Wohlstands-, Energie-, Ressourcen-, Mobilitäts- und Ernährungswende zusammen. Die Urbane Wende ist damit ein Knotenpunkt der Großen Transformation. Städte sind in ihrer Vielfalt und Eigenart zugleich Experimentierorte für die Große Transformation“. [10] Zur Stärkung der Resilienz [11]urbaner Räume werden perspektivisch lokale Wirtschaftskreisläufe relevanter.
Digitale Produktionsmethoden können zur Dezentralisierung der Warenproduktion genutzt werden und damit lokale Produktionsstandorte ausbauen. [12] [13] [14] Zur Transformation der aktuell vorherrschenden Handlungsmuster in Gesellschaft und Wirtschaft muss Teilhabe in verschiedenen Maßstäben ermöglicht werden. [15] Auf lokaler Ebene könnten dazu Räume dem Verwertungsdruck des Immobilienmarktes entzogen werden, um Abseits von Besitzansprüchen mit alternativen Formen des Wirtschaftens, zum Beispiel der kollaborativen Peer-Produktion, zu experimentieren und in einem empirischen Prozess Informationen zu sammeln. „Indem Wissenschaftlerinnen zusammen mit Akteuren vor Ort gemeinsam Veränderungen anstoßen, lernen sie -gemeinsam- über die Möglichkeiten und Muster erfolgreicher Veränderungsprozesse.“ [16]



LEERSTEHENDE KAUFHÄUSER SIND MÖGLICHKEITSRÄUME

Was würde es für die Stärkung bürgerschaftlicher Eigenverantwortung bedeuten, wenn ein Gebäude niemandem gehört? Welche Formen der Organisation wären notwendig, um einen öffentlichen Innenraum ohne Besitzansprüche zu gestalten? Um Erfahrungen mit alternativen Ordnungssystemen zu sammeln, bieten Experimente in Form von Real-Laboren gute Möglichkeiten. In dieser Weise können Gesellschaftstheorien in einen praktischen Prozess überführt werden.

In der nachfolgenden Studie werden zunächst verschiedene Transformationsräume betrachtet, mit denen perspektivisch ein experimenteller Umgang möglich ist. Im weiteren Verlauf werden dann Kaufhäuser als urbane Typologie, welche aktuell einer Nutzungstransformation unterliegen, in den Fokus gesetzt. Der prototypische Testentwurf eines Kaufhaus Utopia als Ort für lokale, kollaborative Produktion wurde auf Grundlage des GALERIA-Karstadt-Kaufhof Kaufhauses in Hamburg Wandsbek entwickelt.


ANPASSUNGSFÄHIGE INFRASTRUKTUREN

Transformationsräume befinden sich sowohl in urbanen, als auch in nicht-urbanen Räumen, deren jeweilige Lebenswelten sehr verschieden sein können. Ein dezentral organisiertes Infrastrukturnetz kann perspektivisch dazu beitragen, lokale Kreisläufe in gegenseitigen Austausch zu bringen. [17] Als Bindeglied zwischen verschiedenen Verhandlungsräumen und Orten der Innovation, beispielsweise einem Kaufhaus Utopia, ist öffentliche Infrastruktur zur Überlagerung der jeweiligen Wirkungsräume notwendig.

Am Ende der Studie wird die Idee eines Kaufhaus Utopia als kollaborativer Produktionsort in den aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs eingeordnet. Eine Ideenskizze setzt den Testentwurf in räumliche Beziehung mit weiteren Transformationsräumen.



[1] Vgl.: Begriff „Große Transformation“ nach WBGU, Hauptgutachten, Welt im Wandel, Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin, 2011, 20.09.2020 abgerufen unter:
https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf
[2] Sabine Oberhuber, Thomas Rau, Material Matters, Econ Verlag, Berlin, 2. Auflage 2019, S. 61
[3] Vgl.: ebda. S37-40
[4] Vgl.: 20.09.2020 abgerufen unter http://turntoo.com/en/
[5] Vgl.: 20.09.2020 abgerufen unter https://www.madaster.com/de/about-us-2/vision-mission-aims
[6] Vgl.: Uwe Schneidewind, Die Große Transformation, Kapitel: „Nachhaltigkeit Teilhabe Eigenart – Die Trias urbaner Zukunftskunst“, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2018, S. 263 - 267
[7] Vgl.: ebda. Kapitel: „Auf dem Weg zur Möglichkeitswissenschaft“,
Abschnitt: „Modellieren und experimentieren: Zur Bedeutung von >>Reallaboren<<“, S. 447 - 451
[8] Vgl.: Ben Robra, Pasi Heikkurinen, Iana Nesterova, Commons-based peer production for degrowth? - The case for eco-sufficiency in economic organisations, Elsevier,
20.08.2020 abgerufen unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2666188820300289?via%3Dihub
[9] Formulierung von 51N4E (Architekturbüro, Brüssel),
16.09.2020 abgerufen unter: https://www.51n4e.com/programs/civic-design
[10] Uwe Schneidewind, Die Große Transformation, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2018, S. 261
[11] Vgl.: Friedrich von Borries und Benjamin Kasten, Stadt der Zukunft, Wege in die Globalopolis, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2019, S. 189
[12] Vgl.: Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016
[13] Vgl.: Chris Anderson, Makers - Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution, Carl Hanser Verlag, München, 2013
[14] Vgl.: WBGU, Gutachten: Unsere gemeinsame digitale Zukunft, Kapitel: „3.3.5.4 3D-Druck und additive Fertigung“, Absatz: „Potentiale und Risiken“, Berlin, 2019, S. 89, 20.09.2020 abgerufen unter:
https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2019/pdf/wbgu_hg2019.pdf
[15] Vgl.: Friedrich von Borries und Benjamin Kasten, Stadt der Zukunft, Wege in die Globalopolis, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2019, S. 122 - 123
[16] Uwe Schneidewind, Die Große Transformation, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2018, S. 447
[17]Vgl.: Begriff „Energie-Kommunikations-Matrix“ aus: Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft,
Kapitel: „Die Zweite Industrielle Revolution“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2016, S. 75 – 87